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Titel
Strafgewalt und Provinzialherrschaft. Eine Untersuchung zur Strafgewaltspraxis der römischen Statthalter in Judäa (6-66 n. Chr.)


Autor(en)
Kirner, Guido O.
Reihe
Schriften zur Rechtsgeschichte 109
Erschienen
Anzahl Seiten
396 S.
Preis
€ 82,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Anne Kolb, Historisches Seminar, Universität Zürich

Kirner legt hier die leicht überarbeitete Version seiner von W. Nippel betreuten Dissertation (Humboldt-Universität zu Berlin 2002) vor. Mit der Ausübung von Strafgewalt durch den Statthalter untersucht Kirner einen Teilbereich der judikativen Aktivitäten von Gouverneuren in der römischen Provinz Judäa, die zugleich als Modell für die statthalterliche Strafpraxis in anderen Provinzen dienen soll. Kirner beabsichtigt Bedingungen, Situationen sowie die Art und Weise von Sanktionsmaßnahmen, welche die Aufrechterhaltung der römischen Ordnung in der Provinz bezweckten, zu hinterfragen. Daher bezieht die Analyse ebenfalls Aspekte der Herrschaftsorganisation und Herrschaftspraxis der Römer ein. Von der bisherigen, vornehmlich rechtshistorisch orientierten Forschung, deren Hauptvertreter Theodor Mommsen und Wolfgang Kunkel sind, will sich Kirner durch eine seiner Meinung nach bisher nicht geleistete kontextualisierende Analyse abheben, indem er statt der chronologisch und geografisch weit gestreuten "Rechtsquellen" (über deren Definition sich wohl streiten lässt) nun Prozess- und Entscheidungsbeispiele aus einer geschlossenen Quellenbasis, vornehmlich den historischen Schriften des Flavius Josephus zusammen mit den Evangelien und der Apostelgeschichte, verwendet, um die Handlungsweise der Statthalter im Rahmen zeitlich und räumlich abgegrenzter Herrschaftsverhältnisse zu untersuchen. Dabei lassen sich aufgrund der besonders günstigen Quellenlage für die Provinz Judäa eine Reihe aufeinander folgender Statthalterregimente eingehend studieren, was für andere Regionen des Reiches für die Epoche des 1. Jahrhunderts nicht möglich ist. Abgesehen von dem etwas übertrieben negativen Urteil über die Methodik der bisherigen Forschung bildet diese Auswahl einen sinnvollen Ansatz. Allerdings bleibt die Frage offen, weshalb und inwieweit gerade die von Kirner deutlich herausgearbeiteten speziellen Verhältnisse in Judäa (insbesondere aufgrund der dort herrschenden Spannungen und Probleme ethnischer, religiöser, politischer und sozialer Natur) auf andere Reichsteile übertragbar sein sollen.

Mit seinem Vorgehen verfolgt Kirner zwei Ziele: einerseits soll die Sanktionspraxis im Sinne einer Grauzone zwischen persönlicher Willkür und Vollstreckung normativer Regelungen charakterisiert werden, andererseits will er nachweisen, dass Mommsens und Kunkels Aufspaltung der Strafgerichtspraxis in Zwangsgewalt und Strafgerichtsbarkeit im Hinblick auf die nichtrömische Provinzbevölkerung eine künstliche Kategorisierung darstellt, welche die Quellen im Detail nicht aufzeigen. Die Arbeit Kirners gliedert sich im Einzelnen folgendermaßen: Als einführende Teile dienen die Einleitung (S. 13-20) mit der Formulierung von Fragestellung und Methodik sowie Kapitel I (S. 21-71: Die Strafgewalt zwischen Recht und Herrschaft), das eine sehr extensive Kritik der bisherigen Forschung über die engere Thematik wie auch die römischen Herrschaftsstrukturen im Allgemeinen liefert, wobei Kirner hier nochmals wortreich sein Vorgehen begründet. Kapitel II (S. 72-120: Ciceros Verrinen und die "selbstherrliche" Strafgewalt) untersucht "als längerer Exkurs" (S. 17) die Ausprägung der Sanktionsgewalt des Provinzgouverneurs für die Epoche der Republik anhand von Ciceros Reden gegen Verres, um daran Mommsens und Kunkels Thesen zu überprüfen, welche Kirner für überwunden erklärt. Da die gegen Verres gerichteten Reden dessen Amtsmissbrauch vor Augen führen sollen, kann Kirner deutlich den großen Handlungs- und Ermessensspielraum des Statthalters im Bereich seiner Strafgerichtsbarkeit aufzeigen.

Mit Kapitel III (S. 121-133: Die römische Provinz Judäa und Flavius Josephus) beginnt der Hauptteil der Arbeit in Form quellenkritischer Überlegungen zu Josephus' Leben und Werk, dessen Rolle als "offizieller Historiker der flavischen Dynastie" betont wird. Kapitel IV (S. 134-180: Die Statthalter und die Provinz Judäa) führt in Geschichte, Status und Verwaltung der Provinz ein, wodurch der historische, soziale und herrschaftssoziologische Hintergrund vorgestellt wird. Kapitel V (S. 181-245: Die Strafgewaltspraxis des Statthalters in Judäa) diskutiert sodann an Fallbeispielen die Sanktionsmaßnahmen der Provinzgouverneure im Rahmen der folgenden Problemkreise: Aufruhr durch religiöse Agitation, Bandenwesen und indigene Protestaktionen. Weitere Gesichtspunkte betreffen die Reaktionen der Provinzbevölkerung sowie die Rolle des Kaisers. Dieses Beziehungsgeflecht versucht Kirner in einem grafischen Schema zu verdeutlichen (S. 180), das die Interaktions- und Kommunikationsstruktur zwischen dem Kaiser, dem Provinzgouverneur von Judäa sowie demjenigen der Provinz Syrien (wegen dessen wiederholten Eingreifens in Belange der Provinzverwaltung Judäas), ferner lokalen Herrscherfamilien, Aristokratie und Provinzialen abbilden soll. Entgegen dieser Zielsetzung vermittelt die Grafik jedoch eher eine Vorstellung von der hierarchischen Stellung der Repräsentanten von Macht und Einfluss, die zusammen eine Art Kräftefeld bilden. Dass weder feste Kommunikations- und Interaktionsstrukturen noch eindeutige Kriterien für die Urteile von Statthaltern und Kaisern existierten, machen Kirners Ausführungen in diesem Kapitel wie zu erwarten deutlich.1 Zahlreiche der erläuterten Fälle zeigen immer wieder die Interventionsbefugnis des syrischen Provinzgouverneurs in vor allem militärische Aktionen, aber auch außermilitärische Fragen betreffende Angelegenheiten Judäas. Der dazu von Kirner schon weiter oben (S. 146-154) ausführlich vorgestellte und überlegt beurteilte Forschungsstand weist die Frage nach dem genauen Verhältnis zwischen dem Statthalter von Judäa und dem Legaten der Provinz Syrien als ein bisher nicht befriedigend gelöstes Problem der Forschung aus. Obwohl Kirner (S. 153) mit gewissem Recht bezweifelt, ob Bezeichnungen wie 'Unterstatthalter' (für den Präfekten von Judäa) oder 'Teilprovinz' angemessen zur Deutung beitragen können - angesichts des Anachronismus solcher bürokratischen Hierarchiemustern entlehnter Begriffe -, liefert diese Interpretation bisher immer noch die einfachste Erklärung des Phänomens. Die Interventionen lassen sich damit als notwendige Aktionen und Entscheidungen des syrischen Legaten verstehen, der die Eingriffe aufgrund seiner Aufgabe und Stellung durchzuführen hatte.

Kapitel VI (S. 246-291: Die Kreuzigung Jesu von Nazareth) und VII (S. 292-344: Der Apostel Paulus vor den Statthaltern in Judäa) sind der ausführlichen Auseinandersetzung mit den berühmten Prozessen gegen Jesus sowie gegen den Apostel Paulus vorbehalten. Es schliesst sich die Schlussbetrachtung (S. 345-362) an. Insgesamt kann Kirner mit seiner Analyse der in den Kapiteln V-VII präsentierten Fälle den großen persönlichen Ermessensspielraum des Statthalters in seinen Urteilen und seinem Vorgehen, welchem in der Regel konkrete politische oder herrschaftspragmatische Überlegungen zugrunde liegen, deutlich vor Augen führen. Die Arbeit schließt mit einer Liste der Fälle bei Josephus (S. 363), dem Quellen- und Literaturverzeichnis (S. 364-389) sowie einem Sachregister (S. 390-396); das Fehlen eines Quellenregisters ist zu bedauern.

Abgesehen von kleineren formalen Schwächen 2 bietet Kirner eine sorgfältig gearbeitete, auf präziser Kenntnis von Quellen- und Forschungsliteratur basierende Argumentation, welche die formulierten Ziele - insbesondere Mommsens und Kunkels enge rechtsdogmatische Thesen zu überwinden - erreicht. Allerdings verwundert das Ergebnis der strafrechtlichen Entscheidungsfreiheit des Statthalters letztlich nicht, gehörte doch das eigene Ermessen des Gouverneurs zu den Grundprinzipien seiner Rechtsprechung, wenn nicht der Provinzialverwaltung überhaupt.3

Anmerkungen:
1 Vgl. allgemein zur Thematik von Kommunikation und Interaktion Millar, F., The Emperor in the Roman World, Oxford 1992; Meyer-Zwiffelhoffer, E., Politikos archein. Zum Regierungsstil der senatorischen Statthalter in den kaiserzeitlichen griechischen Provinzen, Stuttgart 2002; Kolb, A., Wege der Übermittlung politischer Inhalte im Alltag Roms, in: Weber, G.; Zimmermann, M. (Hgg.), Propaganda - Selbstdarstellung - Repräsentation im römischen Kaiserreich des 1. Jhs. n. Chr., Stuttgart 2003, S. 127-141; siehe ferner: Eck, W., Zur Durchsetzung von Anordnungen und Entscheidungen in der hohen Kaiserzeit. Die administrative Informationsstruktur, in: Ders., Die Verwaltung des Römischen Reiches in der Hohen Kaiserzeit. Ausgewählte und erweiterte Beiträge, Bd. 1, Basel 1995, S. 55-79; Peachin, M., Iudex vice Caesaris. Deputy Emperors and the Administration of Justice during the Principate, Stuttgart 1996, bes. S. 30-32; Eck, W., Der Kaiser und seine Ratgeber, in: Ders., Die Verwaltung des Römischen Reiches in der Hohen Kaiserzeit. Ausgewählte und erweiterte Beiträge, Bd. 2, Basel 1998, S. 3-29; Ders., Provinzialverwaltung und Steuern, in: ebd., S. 107-145.
2 Neben einigen wenigen Druckfehlern sind unscharfe Formulierungen und stilistische Redundanzen zu nennen, die eine Straffung der Darstellung wünschenswert erscheinen lassen. Unklar ist z.B. auf S. 176 die Verwendung des Begriffs "Provinzialstruktur" in der Überschrift ("6. Skizze der Provinzialstruktur Judäas"), da in diesem Abschnitt die Zusammensetzung der Bevölkerung Judäas aus diversen Gruppen und die Einbindung des Statthalters in dieses Sozialgefüge thematisiert werden.
3 Dies gilt gemäss der Ulpiansentenz aus de officio proconsulis, folgt man der von Kirner geforderten Modellhaftigkeit der Provinz Judäa, Dig. 1,16,7,2: Cum plenissimam autem iurisdictionem proconsul habeat, omnium partes, qui Romae vel quasi magistratus vel extra ordinem ius dicunt, ad ipsum pertinent; 1,16,9: nec quicquam est in provincia, quod non per ipsum expediatur. Sane si fiscalis pecuniaria causa sit, quae ad procuratorem principis pespicit, melius fecerit, si abstineat.

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